Psychische Gesundheit im Krisenmodus
Gastbeitrag von Annamaria Müller*
Die kriselnde psychische Gesundheit unserer Gesellschaft ist ein viel kolportiertes Thema – auch in diesem Medienspiegel. Doch was steht dahinter und was bedeutet es? Psychische Leiden führen zu vermehrtem Aufsuchen von Hilfsangeboten und somit zu einem Anstieg von Behandlungen. Nachfrage erzeugt Angebot, Angebote führen zu Nachfrage, beide bewirken gesellschaftliche Akzeptanz und enttabuisieren die Inanspruchnahme. Soweit, so klar. Sind wir aber psychisch kränker? Oder ist die Berichterstattung über den Zustand der Psyche bloss Gegenstand kollektiver Neugier (späht man doch gern in Nachbar’s Hirnkastl oder Kollegin’s Herzkammerl, ohne sich mit selbigen austauschen und etwaigen schwierigen Gesprächen aussetzen zu müssen)? Wird der kränkelnde Zustand unserer Psyche gehyped, weil er einen Markt für Produkte und Dienstleistungen aller Art erschliesst? Oder befinden wir uns in ein einer Art «Doomsday-Falle» mit Pandemie, Inflation, Klimakrise, Weltlagenbedrohung und digitalem Overkill, in die wir seelisch zunehmend hinstürzen?
Ich grüble. Ich denke an meinen Nachbarn mit seinem transgendernden Kind. An meine Kollegin mit ihrer ausbeutenden Arbeitssituation. An meine betagte Verwandte mit ihrer zermürbenden Therapie. Ich klappe meinen Laptop auf und frage Bing: «Is there a mental health crisis?» Bing überlegt. Nach einigen Sekunden tippt er zurück: «Yes, there is a mental health crisis. According to the World Health Organization (WHO), nearly a billion people – including 14% of the world’s adolescents – were living with a mental health disorder in 2019. The COVID-19 pandemic has triggered a surge in mental health issues, particularly among young people.”
Frei übersetzt, erklärt mir Bing, dass die Pandemie die Jugend in eine psychische Krise gestürzt hat, und zwar weltweit. Und hier? In der Schweiz? Bing: «Ja, laut einer Umfrage ist fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung psychisch angeschlagen. Ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung ist bisher gut durch die Krise gekommen. Trotz der vorläufig positiven Bilanz für weite Bevölkerungskreise ist die Corona-Pandemie bei gewissen Personen mit erheblichen psychischen Belastungen verbunden. Im Jahr 2017 waren 6% der Bevölkerung wegen psychischen Problemen in Behandlung. Ich hoffe, das hilft Ihnen weiter.» Anschliessend gibt mir Bing noch Tipps, was ich tun soll, wenn ich mich in einer psychischen Krise befinde und weist mich auf diverse Online-Angebote hin. Nett. Aber soweit sind wir noch nicht. Ich greife auf eine herkömmliche Quelle zurück, die Erhebung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zur psychischen Gesundheit vom Herbst 2022.
Gemäss dieser ging es jeder achten der befragten Personen im vergangenen Jahr psychisch so schlecht, dass sie in ihrem Alltag eingeschränkt war oder Suizidgedanken hatte. Die Jungen scheinen tatsächlich mehr zu leiden als die Alten, allerdings wurden Personen in Alters- und Pflegeeinrichtungen gar nicht befragt. Eine grobe Unterlassung? Bei den Jungen sind es vor allem die Frauen, die mit Symptomen wie Depression, Angststörungen, Selbstverletzung oder Suizidgedanken zu kämpfen haben, Männern geht es etwas besser. Zumindest laut ihrer Angaben. Auch Arbeitslose, Bildungsferne und Zugereiste aus Krisengebieten leiden stärker. Wen wundert’s. Rund 10% der Bevölkerung war in Behandlung, wobei sich die Erhebung auch auf leichtere Belastungen wie Stress bezog. Auch hier schliesst der Bericht mit der Erkenntnis, dass «der Stärkung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz und der Bereitstellung zugänglicher Hilfs- und Versorgungsangebote durch Fachkräfte nach wie vor eine grosse Relevanz zukommt» und daher «das Wissen über psychische Gesundheit auf Bevölkerungsebene von grosser Bedeutung ist».
Ich bin immer noch ratlos. Geht es uns allgemein schlechter? Sind psychische Störungen die Zivilisationskrankheit von heute? Dass sich Arbeitslose, traumatisierte Migrant:innen und chronisch Kranke psychisch schlecht fühlen, ist nachvollziehbar, und je mehr es von diesen Personen in der Gesellschaft hat, umso grösser der Anteil Leidender. Frei nach Adam Riese. Aber die Jungen? Werden von den Sozialen Medien systematisch drangsaliert, so gewisse Fachleute. Mädchen in die Depression und Selbstzerstörung getrieben, Buben in Aggressionsschübe und Gewaltfantasien. Die Jungen (Männer) marschieren (wieder vermehrt) nach Rechts. Auch das lässt sich sozialwissenschaftlich nachweisen. Ungute Gefühle kommen auf. Wie war das damals vor hundert Jahren?
Abgesehen von der Weltenlage muss das Wohlergehen unserer Jugend indes in viel näherliegendem Egoismus verortet werden: Wer wird uns, angejahrte Boomer und Gen-X’er, künftig pflegen und behandeln? Wir, die wir Viele sind und die Tendenz haben, lange zu leben und teuer zu sterben? Natürlich wünschen wir uns hilfsbereite Fachpersonen, am liebsten die gesamte Generation Z und Alpha, die sich hingebungsvoll unseren kurativen und palliativen Bedürfnissen widmet. Doch weit gefehlt! Erstens leidet diese selber, zweitens hat sie keine grosse Lust, dem Gesundheitswesen rund um die Uhr aufopfernd zu Diensten zu stehen. Lieber programmiert sie Apps. Knapp die Hälfte der «DiGa’s», vom Deutschen Bundesgesundheitsministerium zugelassene digitale Anwendungen, befassen sich mit der Verbesserung der psychischen Gesundheit. Apps sind, neben Pillen, unsere neuen kleinen Helferlein. Sie stehen auch dann zur Verfügung, wenn alle anderen schlafen oder Party machen. Appelle ehemaliger Chefärzte, die zur Rückkehr zur diakonischen Arbeitsbereitschaft rufen, andernfalls die Gesundheitswelt untergehe, wirken da bloss realitätsfremd. Denn drittens – und für mich als Ökonomin wichtigstens – sollen die jungen Leute gar nicht in Scharen ins Gesundheitswesen strömen. Vielmehr sollen sie, bitteschön, in Bereichen arbeiten, die zur wirtschaftlichen Wertschöpfung beitragen. Sich um alte und kranke Menschen zu kümmern, ist ehrenwert, tut dies aber nicht. Leider. Die Produktion und Abgabe pharmazeutischer Produkte, auf die die Schweizer Wirtschaft so stolz ist, mag zwar die Taschen einiger weniger prall füllen, unser psychisches und physisches Wohlergehen hängt hingegen von der gesamten Wirtschaft ab. Und diese wiederum von den Jungen. Darum, bitteschön, ist es wichtig, dass es ihnen gutgeht. Wofür wiederum wir Alte verantwortlich sind. Dankeschön.
*Annamaria Müller ist Präsidentin des Schweizer Forums für Integrierte Versorgung fmc sowie Verwaltungsratspräsidentin des Hôpital fribourgois HFR. Ausserdem ist Sie mit ihrer Firma Amidea GmbH – New Health Care Solutions freischaffend tätig.
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