Sesseltanz oder die Reise nach Rom
* Ein Gastbeitrag von Dr. Hans Balmer
Im Sommer spielen die Kinder im Garten. Zu ihren Spielen gehört traditionellerweise der Sesseltanz.
Dabei ordnet man Stühle im Kreis an, einen Stuhl weniger als Teilnehmer. Diese stellen sich ebenfalls im Kreis auf. Wenn eine Musik ertönt, müssen sich alle im Kreis um die Stühle bewegen. Wenn ein Spielleiter die Musik abrupt stoppt, muss jede/r Teilnehmer/in versuchen, sich möglichst schnell auf einen freien Stuhl zu setzen; wer leer ausgeht scheidet aus. Nun wird ein Stuhl entfernt und die verbliebenen Teilnehmer ermitteln wieder durch das musikgesteuerte Laufen und Stoppen weitere Verlierer. Das Spiel wird solange wiederholt, bis in der letzten Runde nur noch ein Stuhl und zwei Teilnehmer übrig bleiben; wer nun absitzen kann, gewinnt das gesamte Spiel. Angesichts der vielen Stuhlopfer ist das aber ein veritabler Phyrrus-Sieg.
Und es ist Wetzikon pur. Und zugleich traurige Interpretation der gegenwärtigen Spitalsituation. Das kleine, medizinisch eigentlich hervorragende Spital im Zürcher Oberland wird zum Bauernopfer einer verfehlten oder eigentlich gar nicht existierenden nationalen Spitalplanung. Im Gegensatz zu offenbar systemrelevanten Häusern hilft hier der Standortkanton nicht. Die Folgen sind dramatisch: Nachlass des Spitals, ebenso des Generalunternehmers, der einen Neubau zu 70 % erstellt hat, Handwerker, die vergebens auf Rechnungszahlungen warten und Anleihenszeichner, die zu einem grossen Teil auf Non-valeurs sitzen, weil fällig gewordene 170 Mio. Franken weder zurückbezahlt noch am Kapitalmarkt aufgenommen werden können, es sei denn zu horrenden Zinsen und mit Staatsgarantie. Erstes ist angesichts lausiger Tarife nicht finanzierbar, des Zweite gehört ins Reich der Träume. Es gibt nur Verlierer, zu ihnen gehören auch die Zürcher SteuerzahlerInnen.
Wobei die bedauerliche Situation beileibe nicht in Zürich halt macht. Es ist vielmehr ein Flächenbrand, den die Trägerschaften – nervös wie aufgescheuchte Hühner – mit Pflästerlipolitik und Lippenbekenntnissen zuzupflastern versuchen.
Die bisherigen Spital-Jahresabschlüsse sind himmeltraurig. Wagt man aufgrund der bekannten Erfolgsrechnungen eine Hochrechnung, so gelangt man auf gesamthafte Verluste von rund zwei Milliarden Franken in nur einem Jahr. Ein Reinverlust in Millionenhöhe löst den andern ab; bloss noch wenige Häuser weisen schwarze Zahlen auf. Bei denjenigen, die es am härtesten getroffen hat, ist gar eine negative EBITDA-Rate zu beklagen, derweil – absolut richtig – vor zehn Jahren die Beratungsgesellschaft PwC eine solche von plus 10 % als nötig bezeichnet hat, um sicherzustellen, dass ausreichende Mittel für Neu- und Ersatzinvestitionen bereitstehen und die Kapitalmarktfähigkeit erhalten bleibt. Wir sind heute weit davon entfernt.
Kritische Beobachter der Szene mögen wohl einwenden, dass es Spitalneubauten gebe, die überdimensioniert ausgefallen seien und daher weit mehr zu einer ungenügenden Auslastung beitragen als der vielbeschworene Fachkräftemangel. Auch teilweise zu hohe Personalschlüssel, suboptimale Prozesse und ein Nachholbedarf in der Digitalisierung werden ins Spiel gebracht. Das mag alles sein und ist beileibe nicht toll. Aber ganz entscheidend sind die völlig ungenügenden Tarife. Wenn aufgrund der Tendenz zu mehr ambulanten Eingriffen die Behandlungskosten von OKP-Patienten bloss zu 80 bis 90 % entgolten werden, ist das schlichtweg unfair. Da müssen sich die Spital-Mitarbeitenden vorkommen wie Hamster im Drehrad – strampeln, aber nicht vorwärtskommen. Das ist mehr als demotivierend, wertschätzend erst recht nicht.
So kann es nicht weitergehen. Wir erleiden Schiffbruch, wenn wir weiterhin Tarif-, Finanz- und Sozialpolitik so vermengen, dass eine zunehmende Intransparenz entsteht und bald niemand mehr weiss, welche Quelle welchen Topf zu füllen versucht. Es ist allerhöchste Eisenbahn, die noch vorhandenen Chancen zu nutzen. Damit faire Tarife bezahlt werden, eine sorgfältige Finanzierung gesichert wird und Menschen mit tiefen Einkommen die steigende Last hoher Prämien gemildert wird. Und damit der/die vermeintliche Sieger/in des Sesseltanzes – als einzige/r Überlebende/r – nicht die ganze Zeche alleine bezahlen muss.
*Dr. Hans Balmer ist Verleger der Zeitschrift „Clinicum“. Er ist ebenso aktiv als persönlicher Berater von CEOs und Firmen, vorab in den Bereichen Regulatorien, IT, Telemedizin und Prozessoptimierung.